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Jean-Michel Folon

EINLEITUNG

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Woher kommen die Ideen? Das bleibt letztlich ein Geheimnis. Die Phantasie ist stärker als wir. Aber eines ist gewiss: sie kommen aus der Beobachtung des Lebens. Wir gehen auf der Straße. Viele Dinge kommen auf uns zu. Die Städte wachsen. Zeichen überschwemmen alles. Der Pfeil war die erste Erfindung des Menschen zu seiner Verteidigung. Nun müssen wir uns gegen die Pfeile wehren. Wir eben im Dschungel der Städte. Und die Zeichen wachsen wie Bäume. An Stelle von Bäumen. Und wir ersticken unter den Pfeilen, die uns wie Lianen umschlingen. Das ist die Krankheit der Städte.
Im Mittelalter genügte ein Pferd, um von einem Punkt zum andern zu gelangen. Heute braucht es mehr als eine Million Pfeile, um von Paris nach Brüssel zu gelangen. Ich habe sie gezählt. Sie wachsen And verschwinden. Für mich sind sie etwas Lebendiges geworden. Wie wenn ich verabredet wäre, gehe eh hin, um zu sehen, was mit ihnen geschieht. Sie erlöschen ziemlich bald und lassen anderen den Platz. Es ist interessant, dies zu beobachten. Man erkennt gewisse Zivilisationen an ihren Hieroglyphen. Der Pfeil wird das Zeichen für die Verwirrung einer Epoche sein. Manchmal frage ich mich, was geschähe, wenn jemand eines Nachts alle Zeichen von der Erdoberfläche entfernen würde.

Wer hat mich beeinflusst? Ich kann nicht sagen, dass mich jemand beeinflusst habe. Denn alle haben mich beeinflusst. Alles ist Einfluss, glaube ich. Wir beurteilen alles, was wir antreffen. Ich glaube, es genügt, eine schwarze Linie auf ein weißes Papier zu zeichnen. In dieser Linie ist alles enthalten, was wir angenommen und was wir abgelehnt haben. Wenn ich eine Linie zeichne, weiß ich, dass James Ensor darin ist. Er ist der erste Künstler, den ich wirklich geliebt habe. Nach Ensors Graphiken war ich richtig verrückt. Wegen ihm habe ich die Architektur fallen gelassen. Das ist normal: Ensor war in Belgien ein Vorläufer auf nicht wenigen Gebieten. Eigenartig ist, dass ich Magritte zu diesem Zeitpunkt verabscheute. Ich kann mich erinnern, dass ich auch »Warten auf Godot« verabscheute. Wenn ich jetzt eine Linie zeichne, hoffe ich, dass Magritte und Becket darin sind. Und auch Lewis Carroll. Und Buster Keaton. Ich glaube, sie sind die Väter meiner Generation.
Aber ich habe gelernt, um mich zu schauen, in die Photographien von Cartier-Bresson und in die Zeichnungen Steinbergs. Sie geben uns die Möglichkeit, eine Epoche zu lesen. Sie verbringen ihr Leben damit, das Inventar des zwanzigsten Jahrhunderts aufzunehmen. Meiner Ansicht nach wird man später entdecken, dass sie die beiden großen Zeugen waren. Schließlich gab es so viele Dinge. Die Reise nach Bern per Anhalter, um die Klees zu sehen. Und während derselben Reise die Felsbilder des Val Camonica. Vor den vierzigtausend in nackten Fels geritzten Zeichnungen in diesem Tal der italienischen Alpen verstand ich, dass die moderne Kunst zehntausend Jahre alt ist. Und die Geburt einer Stadt ohne Alter im Bild »Die ganze Stadt« von Max Ernst, das 1937 entstand. Eine Stadt nach den Städten und vor den Städten, die ich nicht vergessen konnte.

Aber alles vermischt sich. Alles ist Einfluss Eines Tages sagte ich zu Steinberg, er sei der Sohn von Paul Klee. Er sagte: »Nein, er ist mein Vetter«. Ein andermal, kurz nach dem Tod Andre Bretons, sagte er sogar: »Er war der wahre Marcel Duchamp« . Und Pablo Picasso hat gesagt: »Braque ist meine Frau«. Was zeigt, dass die Kunst eine große Familie ist. Alle schauen alle an. Aber abgesehen von den Familiengeschichten glaube ich, dass ein Künstler durch die Kunst nichtwirklich beeinflusst wird. Ich glaube, dass der einzig wahre Einfluss eines Künstlers das Leben ist.

Zeichnen bedeutet nicht, vor einem weißen Blatt Papier den Kopf in die Hände stützen und sich Fragen, was man machen solle. Zeichnen heißt auf der Straße gehen und das Leben betrachten. Als Resnais das erste Mal in New York war, stand er jeden Morgen früh auf und lief den ganzen Tag umher. Und am Tag vor seiner Abreise schaute er seine Schuhe an und stellte fest, dass sie abgenutzt waren. So ließ er seine Schuhe in New York und reiste ab. Ich bin du Ansicht, dass ein Künstler dazu da ist, seine Schuhe abzulaufen. Ergänzt und bearbeitet Hans Terwege.

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