JEAN BOURDICHON geboren um1457-59 in Tours oder im Bourbonais - gestorben in der 1. Hälfte des Jahres 1521 in Tours

Jean Bourdichon, der Hofmaler dreier Souveräne - Karls VIII., Ludwigs XII. und Franz' I. -, war bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Man bewunderte das meisterhafte Stundenbuch der Anne von Bretagne (Paris), schrieb es aber dem Miniaturmaler Jean Poyet zu. Erst durch eine 1868 entdeckte, von Königin Anne signierte Zahlungsanweisung wurde Bourdichon als Schöpfer dieses Werkes bekannt. Mit Jean Bourdichon, der nur wenige Jahre vor dem Ende der Loire-Schule,< starb, erlosch die große Tradition der Miniaturmalerei.

Manche sehen im Werk Bourdichons, diesem Nachzügler und gotischen Zeitgenossen Leonardos da Vinci, den letzten Höhepunkt einer im Schwinden begriffenen und ihrer völligen Erneuerung entgegengehenden französischen Kunst.

Emile Mäle hat eine Anzahl von kolorierten, mit Sicherheit Bourdichon zuzuschreibenden Arbeiten zusammengetragen, um sie mit dem Stundenbuch der Anne von Bretagne zu vergleichen. Es sind dies: Das Stundenbuch Karls VIII., das Stundenbuch Friedrichs von Aragon (Paris), ein Missale von Tours (Paris), ein Stundenbuch  aus der Bibliotheque de I'Arsenal in Paris und ein weiteres aus der Sammlung Edmond de Rothschild. Auf gleiche Weise konnte man Bourdichon als Schöpfer weiterer illuminierter Handschriften in Innsbruck, Modena und England feststellen. Außerdem identifizierte Jacques Dupont 1936 ein Triptychon aus dem Museum von Neapel als ein Werk Bourdichons. Auf dem Mittelstück dieser Arbeit ist Maria mit Kind dargestellt, darüber - wie auf einer Art Tympanon - die Kreuzigung Christi. Die Seitenflügel  zeigen links Johannes d. T. und darüber den HI. Michael; rechts unten Johannes d. E. und oben den Hl. Georg. Die Ähnlichkeit mit den Malereien des Stundenbuches der Anne von Bretagne ist in Komposition wie in Farbgebung außerordentlich groß. Deshalb wird dieses Triptychon als das bisher einzige authentische Staffeleibild Bourdichons angesehen. 

Der Künstler schuf aber zahlreiche einander ähnelnde Werke: Man findet in den Texten die Beschreibung eines Bildes, das Maria unter einem von Engeln getragenen Baldachin darstellt; dieses Motiv führte er zweifellos in mehreren Fassungen aus. Er hat auch einige Gemälde mit dem heiligen Christophorus sowie Porträts Karls VIII. und der Königin geschaffen. Den König stellte er in verschiedenen Szenen dar, beispielsweise wie er einer Predigt lauscht. Durch einen Stich von Michel Lasne blieb auch eine Darstellung des heiligen Franz von Paula erhalten, die Bourdichon für Ludwig XII. gemalt hat. Jean Bourdichons Vielseitigkeit veranlasste seine Zeitgenossen, ihm die unterschiedlichsten Aufträge zu miteilen: Er konzipierte die Pläne für Caudebec, schuf die Totenmaske des heiligen Franz von Paula, entwarf Münzen für Nantes sowie ein Reliquiar und Lampen für die Ste-Chapelle von Bourbon-I'Archambaud und verzierte Standarten. Zeit und Ort seiner Geburt sind nicht genau bekannt. Nur aus seinem Namen, der noch heute im Bourbonnais häufig anzutreffen ist, kann man schließen, dass er aus dem Herzen Frankreichs stammte. Dagegen ist ziemlich sicher, dass er seine Ausbildung sehr früh in Tours begann, vermutlich in der Werkstatt von Jean Fouquet, dessen Einfluss in Bourdichons Arbeiten deutlich erkennbar ist. Mit 20 Jahren stand er bereits im Dienst König Ludwigs XI. und malte dessen Kapelle in Plessis-lez-Tours aus. Ludwigs Sohn Karl VIII. war mit dieser Arbeit so zufrieden, dass er Bourdichon zum Hofmaler ernannte und ihm den sehr ehrenvollen Titel eines Kammerdieners verlieh. Auch unter Ludwig XII. blieb der Maler in seinem Amt. Um 1500 bestellte Anne von Bretagne das Stundenbuch, an dem er lange mit großer Sorgfalt gearbeitet hat und das ihm erst 1508 honoriert wurde. Franz I., der den Meister schon von den Aufträgen seines Vaters, des Grafen von Angouleme, kannte, ließ sieh 1516 von ihm porträtieren; später beauftragte er ihn mit der Ausschmückung des Feldlagers Camp du Drap d'Or, wo sich Franz I. mit dem englischen König Heinrich VIII. traf. Bourdichons Dekorationen erregten allgemeines Entzücken. Wenige Monate nach diesem Triumph starb der Künstler.

Die Komposition seiner Miniaturen ist locker, manchmal etwas banal; die Gesichter der Personen wirken ausdruckslos, ihre Haltung stereotyp, Man spürt, dass die Miniaturmalerei, diese große Kunstform des Mittelalters, bereits leblos geworden und Bourdichons Werk gleichsam ihr Schwanengesang ist. Diese sehr kostbaren, aber in ihrer Starrheit an byzantinische Bildtafeln erinnernden Miniaturen sind von herrlichen Randleisten umgeben, in die wunderbare, ungemein naturgetreue Bilder von Blumen und Früchten eingefügt sind. Dieser Stil rührt von den Miniaturmalern der Gent-Brügger Schule her, deren bedeutendste Vertreter zur Familie Bening gehörten und denen der größte Teil des berühmten Brevier Grimani zu verdanken ist.

Bourdichons Landschaften sind in der Tradition Fouquets gemalt. Man findet bei Bourdichon das gleiche Gefühl für die Luftperspektive, die gleichen zarten bläulichen Töne im Bildhintergrund, bei Tag- wie bei Nachtszenen. Man entdeckt in seinem Werk auch viele antike und italienische Motive. Ist der Maler je in Rom gewesen? Vermutlich hat er nur entsprechende Vorlagen in Fouquets Atelier gefunden. Wie Fouquei verwandte auch Bourdichon häufig Gold. Man kennt noch einige Handschriften in sehr ähnlicher Manier; es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Bourdichon in Tours eine Werkstatt hatte, aus der zahlreiche Arbeiten hervorgegangen sind.

Auf die Existenz eines solchen Ateliers hat sich übrigens Madeleine Huillet d'Istria in einer erst kürzlich erschienenen, dem Meister von Moulins gewidmeten Arbeit gestützt, um eine ganz neue Theorie über Bourdichon zu entwickeln. Die Autorin glaubt, im Stundenbuch der Anne von Bretagne die Handschrift mehrerer Maler unterscheiden zu können und vermutet, dass Bourdichon lediglich den Kopf eines Bildes der betenden Anne selbst gemalt hat, es sich aber bei allen anderen ihm bis jetzt zugeschriebenen Miniaturen nur um Arbeiten aus seinem Atelier handelt. Gleichwohl weist Madeleine Huillet d'Istria dem Werk Bourdichons einen sehr hohen Rang zu: Sie empfiehlt, ihm - außer dem Kopf der Anne von Bretagne - das Porträt des Dauphin Charles-Orland zuzuschreiben, das, als Schenkung von Carlos de Beistegui, im Louvre hängt; ferner das Mittelbild des Triptychons in der Kathedrale von Moulins - beide Werke wurden bisher dem Meister von Moulins zugeschrieben -, und außerdem eine kleine Gruppe von drei knienden Gestalten im Triptychon von Loches, von der man bisher annahm, daß sie der Schule von Jean Fouquet entstamme, über der man aber tatsächlich die Initialen F. I. B. lesen kann: Sollte das Fecit Johannes Bourdichon heißen? Diese Theorie verändert alle Maßstäbe, nach denen man bisher Bourdichon eingeordnet hat. Jedenfalls ist sie noch zu neu, um ohne jeden Vorbehalt übernommen zu werden; man wird eine zweite Arbeit abwarten müssen, die die Autorin zu ihren Untersuchungen über das Werk von Bourdichon angekündigt hat.  

Werkauswahl:

INNSBRUCK Universitätsbibliothek, Cod. 281 Stundenbuch,

76 x 22 cm. - LONDON Slg ). Rothschild ,>Stundenbuch«, 75 x 70

cm. - Sir John Soane's Museum, Nr. 5 >,Stundenbuch, 15 x 70 cm.

- MODENA Biblioteca Estense, Lat. 22a K. 7. 2 Stundenbuch ,

NEAPEL Galleria Nazionale, Palazzo di Capodimonte, Triptychon,

Holz: Mitteltatel "Maria mit Kind und darüber "Kreuzigung

Christr, 114 x74 cm; linker Flügel >,Johannes d. T. und darüber

Hl. Michael, 714 x 32 cm; rechter Flügel Johannes d. E. und

darüber >,HI. Georg, 174 x 32 cm. - NEW YORK Pierpont Morgan

Library, Ms. Nr. 732 >,Stundenbuch, 26 x 75 cm. - PARIS Biblio-

theque Nationale, Ms. Lat. 9474 ,>Stundenbuch der Anne von Bre-

tagne, 30 x 20 cm l Ms. LaL 886 ~,Missale von Tours, 41 x 29 cM l

Ms. Lat. 10.532 ,Stundenbuch Friedrichs von Aragon, 24 x 15

cm / Ms. Lat. 7370 Stundenbuch Karls Vlll., 18 x 70 cm / Ms.

Lat. 1363 Stundenbuch mit Porträt, 4 x 70 an.

Literaturhinweis:

M. HUILLET D'ISTRIA uLe Maitre de Moulins, Paris 1961 / »Met-

tons fin au mythe du Maitre de Moulins in Connaissance des

Arts, 7960. - R. LIMOUSIN "Jean Bourdichon, peintre enlumi-

neure, son atelier ei son ecole (mit Katalog), Lyon 1954. - C. R.

fIOT uDu nouveau sur lean Bourdichon in "Bulletin trimestriel

de la Societe archeologique de Touraine XXX, 1949-50, S. 65 ff. -

E. MÄLE, E. POGNON Les Heures d'Anne de Bretagne in

Verve IV, 1946, Nr. 74-75, S. 24 - /. DUPONT Un triptyque de lean

Bourdichon au Musee de Naples in "Monuments Piot XXXV,

7935-36, S. 779 ff. - P. DUIEU u/ean Bourdichon in A. MI-

CHEL "Histoire de I'Art IV, Paris 1909-11, S. 738 / "Le peintre

Jean Bourdichon et le comte Charles d'Angouleme, pere de Fran-

cois ler in nChronique des arts<r L, 7908, 5. 57 f. / uDecouverte de

nouvelles miniatures de lean Bourdichon in "Chronique des arts

XLVII, 7905, S. 164 f. - E. MÄLE ~,lean Bourdichon et son at~lier in

"Gazette des Beaux-Arts /g. 46, XXXIl, 7904, S. 441 f. l "Trois CEuv-

res nouvelles de lean Bourdichon in uGazette des 8eaux-Arts«

Jg. 44, XXVII, 1902, S. 185 f.

R. Guilly

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